ATMEN



Jeder tut es. Bewusst oder unbewusst. Es passiert von alleine. Warum muss ich mich nicht daran erinnern zu atmen? Wer atmet, wenn ich schlafe? Mein Bewusstsein? Was bin ich? Körper oder Atem? Was atmet? Atmet alles, was lebt? Lebt alles, was atmet? Atmen ist Leben? Ist Energie? Prana? Lung? Qi? Ki? Atmen ist definitiv mehr als das Füllen der Lunge mit Luft und das wieder Entleeren durch die Ausatmung. Der Atem spiegelt meinen physischen Zustand und psychische Beschaffenheit. Wie Kurzatmung bei Angst, panisches Japsen, verzweifeltes nach Luft schnappen, arrhythmisches Ein- und Ausschnaufen in schockverzerrten Situationen. Unnatürliche Aussetzer im Atemfluss. Flucht als Information für den Körper. Alarmglocken für den Überlebensinstinkt. Stress im System. Innere Unruhe. Unumstritten ungesund. Ich meditiere, das ist kein Geheimnis, weil mir sonst früher oder später die Sicherungen durchbrennen würden, ich völlig meinen eiligen Gedanken ausgeliefert wäre und die verloren gegangene Klarheit meine Entscheidungen lähmend beeinträchtigen würde. Mit dem Atem versuche ich mich oft als erstes wieder zu erden. Meine Füße zu spüren, wie sie den Boden berühren oder meine Beine gemütlich stabil auf der Erde verwurzelt im Schneidersitz. Ich hole mich zurück. Atmen ist ein Ankommen im Hier & Jetzt. Eine gegenwärtige Präsenz. Ein da Sein. Ich hauche meinem Körper Leben ein. Mein Atem verbindet mich. Mit meinem physischen Tempel und mit der Welt um mich herum. Zugegeben, das klingt sehr esoterisch. Wie soll ich es anders beschreiben. In einem meditativen Moment werde ich eins mit dem, was ich tue. Egal welche Tätigkeit. Im besten Fall sitze ich still, spüre dabei keinen Schmerz, habe die Augen geschlossen und schicke meine Gedanken auf Reisen oder beobachte unbeteiligt die wirren Ströme in meinem Kopf, nehme wahr und ATME. So’ham. Hamsa. In diesem Augenblick werde ich unbemerkt zum Atem. Ich bin der Atem. Interessant. Wozu habe ich dann noch einen Körper, wenn ich auch ohne bin? Diese Erfahrung sollte weniger Angst machen, als vielmehr befreiend wirken. Erleichternd. Etwas Spielerisches mit sich bringen. Sich weit anfühlen. Grenzenlos. Wir kommen über das Atmen zur Meditation. Aha. Ja, wenn ich bewusst und gleichmäßig, entspannt und genüsslich atme, fühle ich mich in dieser Ruhe geborgen, aufgehoben und unverwundbar. Werde gelassen. Den äußeren Umständen überlegen, bzw. nicht ausgeliefert oder als Opfer unkontrollierbarer Einflüsse, die willkürlich aufploppen. Denn es gibt überhaupt kein Außen mehr. Keinen Unterschied zwischen mir und dir, zwischen diesem und jenem. Keinen Raum. Keine Zeit. Ich verstehe durchaus, dass es schier unmöglich erscheint, wenn der Yogalehrer in einer triefend überfüllten Mittwochabendklasse locker dazu auffordert, die Gedanken zu kontrollieren, als müsste ich dafür nur auf einen Knopf drücken. Hallelujah, das ist nun ganz ehrlich eine Meisteraufgabe. Ich habe es nach meinem 1001. Versuch während meiner Ausbildung irgendwann einmal aufgegeben irgendetwas, geschweige denn meine laut, frech, immer wiederkehrenden, nervigen, hartnäckig penetranten Gedanken unter Kontrolle zu kriegen. Vielmehr finde ich es spannend, sie beim Meditieren aus der Ferne zu betrachten. Kaum bin ich mit einem durch, kommt auch schon der nächste. Eine reine Hetzjagdt. Ich halte nach Möglichkeit nicht an ihnen fest. Bin nicht angehaftet. Lasse sie ziehen und bleibe Atem. Formloses, unendliches Bewusstsein. Zweifelsohne krass herauszufinden, was sich da in meinem Kopf permanent abspielt. So erfahre ich endlich, was mich wirklich beschäftigt und lausche, was ich höre, wenn ich ganz leise werde. Das Geheimnis und vor allem die Entspannung dabei ist, dass ich mich während des Vorgangs des „Beobachtens“ nicht mit den Gedanken identifiziere. Ich kann nicht etwas sein und das selbige gleichzeitig beobachten. Ich bilde mir auch keine Meinung oder bewerte mit gut oder schlecht, traurig, schwierig, unmöglich et cetera. Das fühlt sich tatsächlich an wie Urlaub. Sorgenfrei. Eine unglaubliche Last, ein gewaltiger Druck fällt dann von mir ab. Fazit: ich kontrolliere nicht. Ich gebe auf. Ich kämpfe nicht. Ich wedle mit der weissen Fahne. Erzwinge nichts, aber lasse mich wiederum eben auch nicht von meinen Gedanken kontrollieren. Das ist fair. Das ist Friede in mir. Faszinierend. Und da war er wieder. Jetzt auch. Mein Atem, der mich ohne Unterbrechung, pausenlos begleitet. Mein treuester Freund. Wir. Unzertrennlich. Ein Leben lang. Wie unfassbar beruhigend. Ich bin gerührt. Danke, lieber Atem, ich weiss dich zu schätzen.